Stolz saß ich an einem heißen Sommertag auf dem Kutschbock des historischen
Pumpenwagens der Mechenharder Feuerwehr. Es muss ein großes, rundes
Vereinsjubiläum in unserem Dorf gewesen sein, an dem ich da in meiner frühen
Jugend teilnahm. Ich erinnere mich noch gut an den langen Festzug mit den zig
geschmückten Wagen und der beachtlichen Menge, die den Straßenrand säumte.
Es ist mir als das erste Mal bewusst, dass ich diesen Mann wahrgenommen
habe. Er stand inmitten einer Gruppe Honoratioren, der Bürgermeister neben ihm.
Ich sehe die Szene heute noch vor mir: Sein dunkler Anzug saß wie angegossen, die
Krawatte war akkurat gebunden und er winkte freundlich den Zugteilnehmern zu. Er
hatte etwas staatsmännisches. Er wusste zu wirken, ohne
etwas zu sagen.
„Das ist der Roland Schwing – ‚unser‘ Landrat“, klärte mich ein älterer
Mitfahrer auf. Landrat, das war in meiner damaligen Vorstellung etwas adeliges.
Spätestens als er am Ende in einen großen, dunklen Dienstwagen mit Fahrer
stieg, verfestigte sich das neu gewonnene Bild in meinem Kopf: Es muss eine Art
Fürst sein. Heute schmunzele ich über den Gedanken. Ein Stück Wahrheit steckt
trotzdem darin.
In meinen ersten Jahren in der Jungen Union traf ich ab und an auf ihn.
Immer war es etwas besonderes, wenn ‚der Landrat‘ dabei war. Zwar wich schnell
mein kindliches Bild des Aristokraten, aber trotzdem bewunderte ich fortwährend
seine standfeste Haltung, die er auch ausstrahlte. Wenn er auf Sitzungen oder
Veranstaltungen sprach, hatte ich immer das Gefühl: Der hat die Lage fest im
Griff.
Früh setzte sich bei mir im Kopf seine Aussage zum „Rohstoff Geist“
fest. Gerade bei uns Jungen sprach er oft zur Bildungspolitik. Er war fest
davon überzeugt, dass wir im globalen Wettbewerb nur dann bestehen könnten,
wenn wir uns als Wissensgesellschaft verstehen lernten. Dafür sah er als
Landrat seine Kreisschulen als Brutstätten und dachte Miltenberg zuvorderst als
Bildungslandkreis.
Die Jungen Union prägte maßgeblich Roland Schwings parteipolitische
Sozialisation. Von 1974 an führte er für zehn Jahre den Miltenberger
Kreisverband. Der 24-jährige gewann seine erste Kandidatur damals mit 60 zu 37
Stimmen. Ihm unterlag der acht Jahre ältere Dietmar Andre. Es entstand, nach
gegenseitigem Bekunden, zwischen den beiden Politikern etwas ungewöhnliches:
Tiefe Freundschaft.
Weggefährten beschreiben die Ära Roland Schwing als Blütezeit der
Jungen Union Miltenberg. Die Mitgliederzahlen wuchsen sprunghaft an und mit
ihnen auch Quantität und Qualität politischer Aktionen. Schwing gab dafür
ständig Impulse. Ende der 70er Jahre stellte die JU vier Kreisräte sowie 35
Stadt- und Gemeinderäte. Das Gewicht inner- und außerhalb des
CSU-Kreisverbandes stieg stetig.
Schwing war für seine gradlinige und unabhängige Art bekannt. Als er
1979 mit der Kreis-CSU über die Behandlung von Anträgen der JU und ihrer
Vertreter in Streit geriet, trat er zurück. Er berief eine gemeinsame Verhandlungskommission
ein und verhandelte mit der Mutterpartei ein Einigungspapier aus. Auf dessen
Grundlage ließ er sich nach wenigen Monaten wieder zum Kreisvorsitzenden
wählen.
Generell scheint Schwing an persönlichen Rückschlägen immer gewachsen
zu sein. Es zeugt von seinem Charakter, dass weder eine erfolglose
Listenkandidatur für den Bayerischen Landtag, noch eine Niederlage bei der Wahl
zum JU-Bezirksvorsitzenden 1979 sein Engagement bremsten. Gegen den Wind zu
kreuzen bringt einen eben manchmal schneller zum Ziel, als mit dem Wind zu
segeln.
Roland Schwing war ein Politiker der wusste, dass er den Wind nicht
bestimmen kann. Er war allerdings ein Meister darin, die Segel richtig zu
setzen. Viel gelernt hat er sicherlich dafür in der Jungen Union.
Perfektioniert aber in seiner Paraderolle: Als ihn die Miltenberger 1986 mit 37
Jahren zum Landrat wählten, konnte keiner absehen, dass er das Amt fast drei
Jahrzehnte ausführen würde.
Der Glücksfall für den Landkreis Miltenberg lag nämlich darin, dass
Schwing Gutes immer besser machen wollte. Er sah Probleme und löste sie. Neben
der Bildung kümmerte er sich maßgeblich um die Standortpolitik. Er wusste, dass
die Lebensqualität der Region zum Großteil auf den Wohlstand der Menschen
zurückzuführen war, die im produzierenden Gewerbe gute Arbeitsplätze fanden.
Roland Schwing als Kommunalpolitiker zu bezeichnen greift zu kurz.
Nicht nur, weil in seiner Funktion als Vizepräsident des Bayerischen
Landkreistags Termine in München, Berlin und andernorts regelmäßig in seinem
Kalender standen. Sondern auch, weil er die Entwicklungen der Globalisierung
begriff und Lösungen ersann: Bayern in Rhein-Main war seine Antwort und Arbeitsprogramm
zugleich.
Ewald Hetrodt von der Frankfurter Allgemeine Zeitung portraitierte
Schwing einmal und widmete ihm fast eine halbe Seite des Politikteils. Er
wählte als Überschrift: „Der Landrat“. Treffender hätte es nicht sein können,
denn Schwing personifizierte dieses Amt. Selbst nach seinem Ausscheiden im Jahr
2014 nannten ihn noch viele so. Über Alters- und Parteigrenzen hinweg. Er war
einfach „Der Landrat“.
Am 03. Oktober ist er nun verstorben. Dass der Tag der Deutschen
Einheit und der Sterbetag von Franz Josef Strauß auf das gleiche Datum fallen,
ist schon bemerkenswert. Schwings Bemühungen in der deutsch-deutschen
Zusammenarbeit mit dem thüringischen Partnerlandkreis Ilmenau sowie seine persönliche
Bekanntschaft mit der Lichtgestalt der CSU sind eigene Texte zur Beschreibung
wert.
Irgendwie gefällt mir auch die Vorstellung, dass Roland Schwing und
Franz Josef Strauß sich nun im Himmel treffen. Die bayerischen
Ministerpräsidenten und Landräte haben ja landläufig gemein, dass man ihnen den
Titel „Fürst“ nachsagt. Da lag ich mit meiner kindlichen Einschätzung wohl gar nicht
so falsch. Jeder von ihnen war ein ‚homo politicus‘ – sie haben sich im Himmel
bestimmt viel zu erzählen.
Schwings politische Zurückhaltung in den letzten drei Jahren habe ich
eher als eine Art „cool down“-Phase verstanden und immer gehofft, er möge sich
bald wieder mehr einbringen. Er war Politiker durch und durch. Seine Stimme
fehlte – und ab sofort umso mehr. Wolfgang Zöller und Ludwig Ritter mögen mir
verzeihen, aber mit Schwing verlieren wir den größten Politiker unseres
Landkreises.
Beim letzten Mal, als ich Schwing traf, verabschiedete er sich mit
aufmunternden Worten bei mir. Jetzt war ich es, der am Ende des Termins ins
Auto stieg und wegfuhr. Er stand da und winkte mir freundlich hinterher. Er
trug zwar weder Anzug, noch Krawatte, trotzdem hatte die Szene etwas erhabenes.
Er wusste zu wirken, ohne etwas zu sagen. Auf Wiedersehen, Herr Landrat!