Erlenbach. Ein Putschversuch in der
Türkei – die Meldung donnerte in meine gemütliche Freitagabendrunde. Ausgerechnet
freitags: Was für Christen den Sonntag ausmacht, vollziehen auch viele nicht
strenggläubige Moslems an diesem Wochentag. Es ist der Tag der Zusammenkunft,
der Einkehr, des gemeinsamen Gebets und oftmals auch des gemeinschaftlichen
Abendessens. An diesem Freitag vollzog sich in Istanbul, Ankara und andernorts
in der Türkei ein anderes Schauspiel: Eine Tragödie in menschlicher Hinsicht
und sicher ein Drama für die politische Entwicklung des Landes, der Region und
für die internationalen Beziehungen.
Ist der Vergleich mit einem Schauspiel
angemessen, wenn dabei so viele Menschen starben? Hätten sich nicht die, für so
viele Menschen todbringenden, blutigen oder bitteren, Konsequenzen eingestellt,
dann sicherlich ja. Dann hätte sich mir sogar der Vergleich mit einer Farce aufgedrängt.
Für die meisten Beobachter der türkischen Innenpolitik kam der Putsch völlig
überraschend. Der Zeitpunkt war unwahrscheinlich, die Entwicklungen rasend
schnell und das Tempo steigerte sich im Verlauf des Abends und der Nacht stetig
bis zum Knall – oder besser dem Zerfall. Nur wenige wussten hinterher, dass das
so vorhersehbar war.
Das in den Abendstunden mutmaßlich weitestgehend
leere Parlament in Ankara wurde beschossen, versucht wichtige Fernsehstationen
zu kapern und die so symbolträchtig wie verkehrssystemisch wichtigen Bosporus-Brücken
in Istanbul abgeriegelt. Der türkische Präsident weilte zunächst noch in
Freizeit fernab der Hotspots und noch in der gleichen Nacht war der im
amerikanischen Exil lebende Fethullah Gülen als mutmaßlicher Strippenzieher ausgemacht.
Am nächsten Morgen meldete die Regierung: Aufstand niedergeschlagen, Situation
wieder völlig unter Kontrolle. Angelegenheit erledigt?
Mich hat der Putschversuch überrascht. Nach
der Überraschung stellten sich für mich viele Fragen: Was motivierte die Putschisten?
Haben sie mit der freitagnächtlichen Aktion bereits ihr gesamtes Pulver
verschossen? Was sagt es über die politische und gesellschaftliche Situation
eines Landes, wenn Teile des Militärs sich mit Waffengewalt auflehnen? Mehr als
der versuchte Coup verwunderte mich jedoch Erdogans schnelle und nicht minder
martialische Abrechnung. Kann ich zwar aus seiner Sicht noch Verhaftungen
innerhalb des Militärs nachvollziehen, verstehe ich umso weniger, warum
zeitgleich tausende Richter abberufen werden?
Es ist die Macht des perfekten
Zeitpunkts. Erdogan kündigt als Konsequenz Säuberungen an. Wer säubert, will
Schmutz beseitigen. Oder das, was aus seiner Sicht die gute Ordnung stört. Der
Präsident nutzt die Gunst der Stunde. Das Momentum gewährt ihm breiten Rückhalt
in weiten Teilen der Bevölkerung. Es soll aber nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die Türkei tief gespalten ist. Es gibt ganz offensichtlich Gegner, die zum
Äußerten bereit sind. Es ist müßig zu spekulieren, ob nicht doch Erdogan – oder
besser das System Erdogan – selbst hinter dem versuchten Staatsstreich steht. Ganz
gleich, unter dem Strich gibt es einen großen Gewinner der Stunde: Recep Tayyip
Erdogan.
Für uns als Deutsche und Europäer muss umso
dringlicher geklärt werden: Wie gehen wir weiter mit der erdogan‘schen Türkei
um? Denn aus der Gunst der Stunde wurde die Macht des Faktischen. Wie kann es
sein, dass wir ein Pulverfass solch gigantischen Ausmaßes bisher nicht auf dem
Schirm hatten? Spannend zu wissen wäre es, wie sich das Auswärtige Amt und auch
der Bundesnachrichtendienst erklären, dass die Bundeskanzlerin oder die Ressortverantwortlichen
aus dem Dunstkreis des Bundessicherheitsrates auch drei Tage später noch kalt
erwischt wirken?
Es ist zunächst zweitrangig, dass wir
als deutsche Demokraten unisono erklären, dass die mit Waffengewalt erzwungenen,
umstürzlerischen Vorgänge in der Türkei also solche grundlegend abzulehnen
sind. Wichtiger ist es, jetzt die richtigen politischen Bewertungen für uns und
unser Verhältnis zur Türkei heraus zu arbeiten. Allen, die sich über unsere eigene
Rechtssetzung allzu gerne beschweren sei gesagt, dass das Grundgesetz in
Artikel 103 ein Rückwirkungsverbot vorsieht. An ein #byebye103 und die
Wiedereinführung der Todesstrafe für Taten in der Vergangenheit ist bei uns
jedenfalls glücklicherweise nicht zu denken. In Erdogans Stunde des Triumpfes
wird sich nun zeigen, wie er mit den geschlagenen Gegnern umgehen wird. Die
Anzeichen stehen allerdings auf Blutrache.
Es würde dem Erdogan-Gedicht von Jan
Böhmermann und der Diskussion darum deutlich zu viel Bedeutung beimessen, wenn
man daraus bereits eine Vorhersage für die Geschehnisse in der Türkei am vergangenen
Freitag auf Samstag ableiten würde. Aber mindestens ein Vorsichtszeichen hätte
es darstellen können. Seinem Geltungsbedürfnis sollten die Vorfälle nicht abträglich
gewesen sein. Die zunehmend harte Hand im Inneren wird europäische
Vorstellungen von Demokratie auf eine harte Probe stellen. Im Außenverhältnis
wird das Kirschenessen mit Erdogan zukünftig wohl nicht einfacher.
Die Bosporus-Brücken verbinden den
europäischen mit dem asiatisch-arabischen Kontinent. Die Zeit wird zeigen, ob
sich Blockaden jetzt in den Köpfen noch weiter festsetzen. Angesichts der
Umstände erscheint das allerdings so. Die Bilder des Coups zeigten fast
ausschließlich junge Soldaten – insofern sie überlebt haben, werden sie mit
drakonischen Strafen und Repressionen zu rechnen haben. Zu hoffen bleibt, dass
die künftigen Generationen besser in der Lage sein werden, in den Wettbewerb
politischer Konzepte zu treten.