München. Es mangelt nicht an Kommentierungen zum aktuellen Ukraine-Konflikt. Die einen verstehen Putin und Russland, die anderen attackieren die aggressive Politik der russischen Föderation. Putins Interview in der ARD ist ein guter Anlass, seine Kritikpunkte ernstzunehmen und Manöverkritik zu üben.
Das war kein gutes Jahr für Europa und die NATO. In Teilen überfordert wurde das nordatlantische Verteidigungsbündnis herausgefordert von einem längst nicht mehr ernst genommenen Gegner. Putin zeigte dem Bündnis die Grenzen auf und trieb so manchen Spaltpilz in die Allianz. Was in der Ukraine und anderswo geschehen ist, wird Europa über Jahre hinaus prägen und die Lehren daraus sind wichtig, um es künftig besser zu machen.
Zu Zeiten des Kalten Krieges trennten ideologische Gründe West und Ost voneinander. Heute macht die Sehnsucht nach einem vorderen Platz in der kapitalistischen Welt Russland zu einem Konkurrenten. Wie an anderer Stelle dieses Blogs schon einmal erörtert, zögert Putin nicht, seine wirtschaftlichen Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Das Muster ist jedes Mal identisch. Im Inneren den Stolz der Russen fördernd, versucht der Präsident, seine Absatzmärkte nachhaltig zu sichern, indem er eine Region destabilisiert.
Im Interview beschrieb Putin seine Grundidee. Russland ist keine entwickelte Industrienation, die Wirtschaft wird getragen von fossilen Rohstoffen und produziert zu wenig. In diesem Zusammenhang bilden Russland und Europa eine Schicksalsgemeinschaft, weil der jeweils andere das ihm fehlende nachfragt. Wer dieses Gleichgewicht stört, provoziert damit Streit. So in seinen Augen geschehen.
Besonders streng geht er dabei mit der Rolle der amerikanischen Freunde ins Gericht. Tatsächlich fehlt den USA das grundlegende Verständnis des Zusammenlebens in Europa und ihr Auftreten in der jüngeren Vergangenheit hat manche freundschaftliche Gefühle verletzt. Sie bleiben der wichtigste Partner Europas, der den Kontinent in der Vergangenheit gestützt und beschützt hat. Dankbarkeit kann aber nur eine Quelle fortdauernder Freundschaft sein, die anderen sind Verständnis, Vertrauen und Verlässlichkeit. Umgekehrt erwarten nicht wenige Politiker aus Washington zu Recht eine Emanzipation Europas und mehr Selbstständigkeit.
Hier liegen auch Europas Fehler in der aktuellen Krise. Die USA teilten die Welt am Ende des Kalten Krieges in Sieger und Verlierer und störten in der transatlantischen Politik in den Augen vieler das geostrategische Gleichgewicht Europas, wo immer sich die Möglichkeit dazu anbot. Daran orientierte sich auch das Auftreten der Europäer selbst, was der aktuelle Spiegel (48/2014) mit Blick auf die Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zurecht kritisiert. Gegenüber Russland trat die Kommission zurückhaltend und ablehnend auf, statt sie einzubinden.
Doch dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Die Nominierung potentieller neuer NATO-Mitglieder durch die USA war für Russland eine Provokation, wie die Bestrebung, durch Georgien und die Türkei hindurch kaspisches und damit nichtrussisches Gas und Öl nach Europa zu exportieren, um die Abhängigkeit Europas und damit die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu reduzieren.
Wo immer Russland seine Interessen gestört sah, schlug es machtvoll zu. So in Georgien 2008 und früher, so aktuell in der Ukraine. Die Ukraine ist nach Deutschland der größte Importeur von russischem Gas und möge das nach russischer Sichtweise noch lange bleiben. Das Streben der Ukraine gen Westen in eine Unabhängigkeit von Russland ist folglich eine Katastrophe für die russische Politik.
Die USA wiederum sehen sich seit langem auf der Siegerseite. Erst jüngst hat Präsident Obama vor australischen Studenten von der letzten verbleibenden Supermacht gesprochen, den USA. Er strapaziert damit die russische Seele, die sich nicht als Verlierer des Kalten Krieges sehen will, sondern deren prowestliche Haltung sich vor allem im Untergang des Kommunismus widerspiegelte. Putin streichelt diese Seele mit einem neuen Nationalismus. Damit führt er seine Beliebtheitswerte in ungekannte Höhen.
Die Situation ist verfahren und komplex. Eine schnelle Lösung ist nicht möglich. Aus europäischer Sicht kann die völkerrechtswidrige Annexionspolitik Russlands nicht toleriert werden. Sicher ist aber auch, dass eine militärische Auseinandersetzung am Ende niemand will und diese nur Verlierer kennen würde. Die Sanktionspolitik, gepaart mit der Fortsetzung des kritischen Dialogs, scheint der einzig gangbare Weg zu sein für die Europäer.
Der kritische Dialog darf nicht einseitig bleiben. Europa muss geeint selbstbewusst auch gegenüber den USA auftreten. Nicht in Washington werden die Mitgliedskandidaten der EU nominiert, sondern in Brüssel. Das gilt mit Blick auf die Ukraine gleichermaßen wie für die Türkei. Beide Staaten sind Brückenstaaten und als solche besonders wichtig für die Nachbarschaftspolitik Europas.
Was Europa ändern kann, ist langfristiger Natur und muss seinen Nachbarn die Möglichkeit geben, es zu verstehen. Erstens muss sich Europa konsolidieren und die Aufnahme neuer Mitglieder in der jetzigen Form ändern. Am Ende dieses Prozesses muss sich ein Kerneuropa bilden, dass gemeinsam die Herausforderungen angeht. Zweitens muss es darüber hinaus eine Gemeinschaft in Europa geben, die Werte teilt und einen gemeinsamen wirtschaftlichen Raum bildet, die Souveränität der Mitgliedsstaaten aber viel stärker achtet als Kerneuropa. In dieser Gemeinschaft können auch neue Mitglieder aufgenommen werden und alte, wie das Vereinigte Königreich, ihren Weg gehen. Drittens muss Europa seine Nachbarschaftspolitik überdenken. Staaten wie die Türkei und Ukraine dürfen nicht assimiliert werden, sondern sollten als Brückenstaaten auf Augenhöhe zwischen den Räumen stehen. Ihre Zukunft ist nicht eine privilegierte Partnerschaft zum einem Teil hin, sondern die Stellung zwischen zwei Welten. Diese Brücken müssen offen sein für eine bessere Verständigung und Handelstätigkeit zu Mehrung von Wohlstand und Sicherheit. Viertens sollte (Kern-)Europa seine sicherheitspolitischen Aktivitäten auch außerhalb der NATO bündeln und zusammenführen, um Synergien zu heben und wehrhaft zu sein. Fünftens sollte der Traum einer Freihandels- und Sicherheitszone von Vancouver bis Wladiwostok weiter genährt und im Sinne von OSZE und OECD weiterentwickelt werden.
Die Krise in der Ukraine macht ratlos. Europa kann aus dieser Krise nur lernen, indem es versteht, dass es seine Zielsetzungen definieren und erklären muss. Was Europa niemand nehmen kann, sind seine Werte und seine Vielschichtigkeit. Das sind seine Stärken. Höchste Zeit, selbstbewusst zu werden. Keine Lösung für die aktuelle Krise, aber einige erste Schritte auf einem langen Weg dorthin.